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Paula und Toms Schokolade

Updated: Jun 10, 2021

Es war der 27. November 2019, exakt sechs Jahre war es her, dass Opa Heinz früh morgens an Nierenversagen verstorben war. Wie jedes Jahr gedachte Familie Weber, das heißt Mama, Papa, Paula und der kleine Tom, an diesen Tag, indem sie ein sorgsam ausgewähltes Gesteck an Opas Grab brachten und ein wenig dort verweilten um in Erinnerungen an die Zeiten zu schwelgen, an denen Opa voller Stolz zum gefühlt hundertsten Mal seinen fein gepflegten Gemüsegarten zur Schau stellte, an dem sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas verändert hatte und dabei strahlte, als hätte er die Gärtnerei erst vorgestern für sich entdeckt. Nach seinem Ableben hatte man lange überlegt, wie man seinem lebenslangen Projekt am besten die Ehre erweisen sollte, aber schlussendlich musste man sich eingestehen, dass weder seine Frau noch seine drei Kinder den Bedarf an Zeit oder Begeisterung, den der Garten in Anspruch nehmen würde, decken konnten. So verkaufte man den Garten schweren Herzens und Oma Irmi übersiedelte in eine kleinere Ein-Personen-Wohnung im ersten Stock eines Gemeindebaus.


Paula war gerade einmal zwei Jahre alt gewesen, als Opa Abschied genommen hatte und das meiste, das sie von Opa noch wusste, stammte von Bildern und Erzählungen. An Tagen wie diesen war sie immer etwas unsicher, worüber sie jetzt nachdenken sollte oder wie sie Opa eine Freude machen konnte, teilten sie doch so wenig gemeinsamere Erinnerungen, die sie noch abrufen konnte. Oft bastelte sie sich ihre Erinnerungen selbst, in dem sie Mamas Schilderungen so gut wie möglich vor ihrem geistigen Auge zu reproduzieren versuchte und manchmal war ihr Kopf voll mit „Was wäre wenn?“-Szenarios. Mama meinte immer, dass Opa ein großer Fußballfan gewesen war, hätte er ihr vielleicht ein paar Tricks beibringen können? Oder hätte er ihr von seinem abenteuerlichen Trip nach Italien erzählt, als er eines Abends spontan einen Rucksack gepackt und mit seinen drei besten Freunden und einem alten VW Bus gen Süden aufgebrochen war? Was war Opa wohl für ein Mensch gewesen? Wild und etwas tollpatschig so wie Paula oder eher ruhig und organisiert wie Mama? Er war Mamas Papa, also hätte er eigentlich eher ihr ähnlich sein sollen, aber Mama sagte immer, er war total quirlig gewesen, bevor er krank wurde natürlich, da kam Paula sehr nach ihm. Vielleicht hätte er nicht genervt die Augen verdreht und darauf beharrt, dass er beschäftigt war, wenn Paula ihn um die fünfte Runde Tischtennis angebettelt hätte. Oder vielleicht hätte er keines dieser Dinge getan und war eigentlich viel langweiliger als Mama und ihre Geschichten ihr immer weiß machen wollten. Aber das konnte nicht wirklich sein, weil über tote Menschen durfte man nicht schlecht sprechen. Ob Mama ihr auch jedes Mal vergessen würde, an dem sie nach einer Niederlage hysterisch schreiend das „Mensch ärgere dich Brett“ durch den Raum geschmissen hatte, wenn sie einmal neben Opa da unten liegen würde? (Der Titel von dem Spiel war ein Aufruf zum Unmachbaren, Paula ärgerte sich jedes Mal grün und blau (außer, wenn sie gewann natürlich, aber das kam leider viel zu selten vor)). Ein eigenartiger Gedanke, auch mit den ganzen Blumen und Kerzen wirkte so ein Sarg nicht wie der einladendste Ort um den Rest seines Ablebens dort zu verbringen. Aber es schien ja jeder hier so zu machen, also hatte das wohl schon seine Richtigkeit. Mama konnte ihr bestimmt sagen, wieso das so war, die wusste ja sonst auch immer alles. „Mama, wieso kommt man eigentlich unter die Erde, wenn man tot ist?“ Darüber schien Mama erst mal eine Weile nachdenken zu müssen, denn sie antwortete nicht sofort. Vielleicht war die Antwort doch nicht ganz so einfach. „Naja, das macht man halt so“, meinte sie. „Dann können wir hier her kommen und an den Opa denken und eigentlich ist es ja egal, was mit seinem Körper passiert, wenn man tot ist, weil da ist man eh nicht mehr drinnen. Manche lassen die Körper ihrer Geliebten auch verbrennen.“ Als Mama das sagte, zuckte Paula kurz zusammen, Verbrennen klang dann doch noch einmal deutlich unangenehmer, als in so einem dunklen, kalten Sarg zu liegen. Aber Mama meinte, Opa ist da gar nicht mehr drin, das war ja seltsam, das musste sie genauer wissen. „Aber wo ist Opa dann?“, fragte sie. „Opa ist im Himmel“, antwortete Mama. „Aber wenn er im Himmel ist, wieso kommen wir dann hier her um mit ihm zu sprechen?“ „Naja“, meinte Mama schulterzuckend. „Im Himmel kannst du ihm ja schwer einen Besuch abstatten, aber hier ist sein Grabstein, da haben wir einen besonders starken Grund an ihn zu denken und es kann gut sein, dass auch er einen Bezug zu diesem Ort hat, weil ja auch sein Körper noch da ist.“ „Aber wenn sein Körper da ist, was ist dann im Himmel?“ „Seine Seele.“ „Was ist eine Seele?“ „Eine Seele ist das von dir, was man nicht angreifen kann.“ „Aber mich kann man doch angreifen.“ „Deinen Körper ja, aber was ist mit deinen Gedanken und deinen Gefühlen, kann ich die angreifen?“ Da musste Paula kurz überlegen. So hatte sie das nie gesehen. „Nein, ich glaub nicht.“ „Siehst du. Und genau diese Dinge sind die Seele. Das was dich wirklich ausmacht. Wenn du stirbst, kannst du zwar nicht mehr Fußball spielen oder mit Marie Winx schauen, aber du kannst noch immer denken und fühlen.“ „Also bin ich dann gar nicht richtig tot.“ „Auf der Erde schon, aber im Himmel nicht.“ „Da lebe ich weiter?“ „Genau.“ „Also ist Sterben eigentlich wie Umziehen, halt bissi weiter weg.“ Da musste Mama lachen. „Ja, ich nehme an, das kann man so sehen.“ „Und wie ist es da so im Himmel?“ „Genau kann ich dir das auch nicht beantworten, ich war ja noch nie dort, aber man sagt, dass dort oben das Paradies ist. Alles, das du dir je gewünscht hast und mehr.“ „Aber wieso wollen wir dann nicht alle sofort sterben? Wieso sind wir dann hier?“ Auch da brauchte Mama ein bisschen länger als zuvor. „Weil wir erst einmal beweisen müssen, dass wir den Himmel verdient haben.“ „Was ist, wenn man den Himmel nicht verdient?“ „Dann kommst du in die Hölle“, sagte Mama etwas unruhig. „Aber das wird dir nicht passieren, keine Sorge, du bist ein gutes Mädchen, du kommst ganz bestimmt in den Himmel.“ „Was ist die Hölle?“ „Da kommen alle bösen Menschen hin. Wo der Himmel das Paradies ist, ist die Hölle ein Ort voll mit Schmerz und Leid.“ Da verzog Paula abermals das Gesicht. „Hmm, das klingt aber nicht sehr gemütlich. „Tut es wohl nicht. Aber darüber brauchst du dir keine Sorgen machen.“ „Woher weißt du das? Auch, wenn ich mich so oft mit dem Tom streite? Wer entscheidet das?“ „Jaja, auch dann. Da müsstest du schon wirklich ganz schlimme Dinge machen. Und Gott entscheidet das, glaub ich.“ „Was für Dinge? Und wie entscheidet der das?“ „Hm, wenn du jemanden anderen schwer verletzt zum Beispiel. Und ich weiß das auch alles nicht so genau, Schatz, ich war ja noch nie dort und du kannst dir ja vorstellen, dass es niemanden gibt, der davon berichten könnte. Tote bleiben in der Regel auch tot.“ „Regeln sind da um gebrochen zu werden“, erwiderte Paula verschmitzt. „Von wem hast du das denn jetzt?“ „Von der Marie, gut oder?“ „Ok, aber ich glaube, diese Regel kannst du schwer brechen. Das würden ja sonst alle machen.“ „Aber wieso, wenn’s im Himmel doch so schön ist.“ „Hm naja, du willst ja auch mal hier leben, oder?“ „Nicht, wenn der Himmel viel cooler ist.“ „Sag das nicht! So einfach ist das alles nicht.“ „Aber wieso denn nicht? Du hast doch gerade gesagt, der Himmel ist das Allerbeste und wenn du nicht urböse bist, dann kommst du dort hin.“ „Ja schon, aber du solltest das Leben trotzdem schätzen, sonst funktioniert das Ganze nicht.“ „Wieso nicht?“ „Dann gäbe es ja hier niemanden mehr.“ „Na und?“ Da überlegte Mama wieder etwas. „Naja, im Himmel kann man keine Kinder bekommen.“ „Dann kann man ja Kinder bekommen und dann sterben.“ „Aber wer kümmert sich dann um die Kinder?“ Das war ein gutes Argument. Paula fände das nicht ganz so cool, wenn Mama plötzlich beschließen würde in den Himmel zu ziehen. „Ok und woher wissen wir das alles, wenn keiner davon erzählen kann?“ „Das steht in der Bibel?“ „Wo?“ „In der Bibel. Das ist ein ganz altes Buch, da stehen alle diese Dinge erklärt.“ „Also weißt du das, weil das in einem Buch steht?“ „Ja, aber das ist nicht irgendein Buch. Das ist das Wort Gottes.“ „Aso, das hat der Gott geschrieben?“ „Nicht ganz.“ „Hat er das angesagt?“ „Ja genau, sowas in die Richtung.“ „Und woher weißt du das?“ „Das hab ich im Religionsunterricht gelernt.“ „Und woher weiß der Religionsunterricht das?“ „Von den Gelehrten, die sich mit Religion auskennen.“ „Und woher wissen die das?“ „Die haben sich lange mit den Texten beschäftigt und das herausgefunden.“ Darüber musste Paula einmal kurz nachdenken, bevor sie Mama mit weiteren Frage bombardieren konnte. „Also die wissen von dem Text, dass er wahr ist?“ „Genau.“ „Aber das macht keinen Sinn.“ „Wieso nicht?“ Da hatte Paula eine Idee. „Mama?“ „Ja?“ „Hast du den Block und Stift da, den du immer dabei hast?“ „Ja, wieso?“ „Kann ich den mal kurz?“ Mama holte Block und Stift aus ihrer Tasche und Paula begann aufgeregt herumzukritzeln, dann gab sie den Block an Mama zurück. ‚Was hier steht ist wahr. Ich hab nicht Toms Schokolade gegessen.‘ „Du hast Toms Schokolade gegessen?“ „Nein, eben nicht“, meinte Paula grinsend. Mama war etwas verwirrt. „Hast du jetzt Toms Schokolade gegessen oder nicht?“ „Da steht doch, ich hab sie nicht gegessen.“ „Aber du kannst nicht einfach irgendetwas aufschreiben und dann ist es automatisch wahr.“ „Aber da steht doch, dass es wahr ist.“ „Aber das hast ja auch du jetzt geschrieben.“ „Genau.“ Paula grinste. Kurz herrschte Stille und dann: „Mama?“ „Ja?“ „Ich glaub, du hast dir das alles ausgedacht.“ „Wieso das?“ „So blöd bin ich nicht.“ „Ich hab mir das aber nicht ausgedacht.“ „Ok, dann bist du aber ziemlich blöd.“ „Also glaubst du mir nicht?“ „Nein.“ Paula schüttelte energisch den Kopf. „Das ist dein gutes Recht. Warte noch ein paar Jahre und vielleicht änderst du dann von selbst deine Meinung.“ „Das glaub ich nicht.“ Mama zuckte mit dem Schultern. „Oder auch nicht.“

verfasst am 27.11.2019

Bild von Arteum.ro über Unsplash

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