„Mamaaaaaa“, fragte die kleine Marie. „Wieso ist da ein Esel auf der Brücke?“ Gemeint war die steinerne Nachstellung eines Eselkopfes, die in Lebensgröße auf dem Brückchen prangte, welches den einzigen Weg über einen lebhaften Fluss darstellte. „Das ist nicht einfach irgendein Esel“, antwortete ihre Mama. „Das ist der Esel, der diese Brücke gebaut hat.“ „Ein Esel, der eine Brücke baut?“ Marie zog skeptisch die Augenbrauen nach oben. „Hat man euch denn im Kindergarten nie die Geschichte vom Brücken bauenden Esel erzählt?“ Marie schüttelte den Kopf. Nein, das hatte man nicht. „Was wird euch denn heutzutage überhaupt noch beigebracht?“, seufzte Mama und begann zu erzählen ...
„Vor langer langer Zeit, da stand hier, wo wir uns gerade befinden, noch keine Brücke -“ „Ja aber wie ist man dann auf die andere Seite gekommen???“ „Dazu wäre ich gerade noch gekommen. Aber wenn du mich die ganze Zeit unterbrichst, kann ich nicht erzählen. Also willst du jetzt die Geschichte hören, ohne, dass du mich unterbrichst?“ „Jaja, ´tschuldigung.“ „Nun gut. Damals gab es noch keine Brücke und ein kleines Eselvolk bewohnte diesen Teil des Landes. Sie wurden von ihren Nachbarn auch liebevoll die Schwimmesel genannt, denn wie du gerade schon festgestellt hast, mussten sie einen anderen Weg finden den Fluss zu überqueren und das taten sie über Generationen hinweg, indem sie ihre Beine trainierten und so lange ihre Schwimmtechnik verbesserten, bis sie kräftig und geschickt genug waren die Strömung des Flusses zu überwinden. So ein Ausflug war kein leichtes Unterfangen, aber das Schwimmenlernen war tief in der Kultur der Esel verankert. Von klein auf wurden sie darauf vorbereitet später einmal den Fluten zu trotzen. Es bedarf jahrelanger Übung, manche fühlten sich schon eher zu dem großen Schritt bereit, andere warteten ein paar Jährchen länger, aber früher oder später war jeder Esel wasserreif. Ab und zu hörte man von einem Kollegen, der in seiner Übermut überstürzt ins Nass eintauchte oder schlichtweg nicht die nötige Vorsicht an den Tag legte und der Strömung zum Opfer fiel, aber in der Regel verlief alles sehr zwischenfalllos ab. Das funktionierte wunderbar jahrhundertelang und niemand hinterfragte das System oder versuchte irgendetwas daran zu ändern, bis eines Tages ein besonders sturer Esel geboren wurde –“ „Der Esel, der die Brücke gebaut hat, oder ???“ „Was hab ich dir zum Unterbrechen gesagt?“ „Tschuldigung.“ „Heute würden wir wahrscheinlich sagen, der Esel war wasserscheu. Es fiel ihm im Traum nicht ein, so lange auf etwas hinzuarbeiten, das er ohnehin nicht machen wollte. ‚Aber irgendwie musst du doch über den Fluss!‘, meinten die anderen Esel. ‚Oder willst du dein ganzes Leben lang von Mama und Papas Arbeit leben?‘ Aber den Esel ließ all das kalt, er blieb stur bei seiner Meinung. ‚Ich finde schon einen Weg‘, sagte er immer wieder selbstbewusst. Es ging nicht an ihm vorüber, dass sein Widerwillen bei den anderen Kollegen nicht auf viel Zuspruch stieß. Sie glaubten nicht eine Sekunde lang daran, dass er wirklich einen anderen Weg finden konnte. Wie auch? Seit hunderten von Jahren, wenn nicht mehr, hatte niemand einen anderen Weg gefunden. Wieso sollte gerade dieser sturköpfige Esel das tun? ‚Aber hatte sich je jemand die Mühe gemacht einen zu suchen?‘, fragte der Esel sich dann jedes Mal. Während die anderen Esel mit dem Krafttraining und der Perfektion ihrer Schwimmtechnik beschäftigt waren, widmete der sture Esel seine Zeit einer ganz anderen Art des Sportes – er übte sich im Denksport. Anfangs tat er sich schwer, einen Anhaltspunkt für seine Lösung zur Überquerung des Flusses zu finden, also bemühte er sich um eine besonders umfangreiche Bildung und schon bald hatte ihm besonders die Mathematik es angetan. Er fand sie für die Problemlösung am geeignetsten und mutmaßte, dass sie sich auf alle anderen Bereichen anwenden lassen würde. Auch, wenn die anderen Esel ihn anfangs noch angeregt für ihrer Sache begeistern zu versuchten, mussten sie doch irgendwann einsehen, dass auch alle weiteren Überredensaktionen fruchtlos sein würden und gewöhnten sich schließlich daran, einen seltsamen Esel in ihren Reihen zu haben, der wohl nie die andere Seite des Flusses aus der Nähe sehen würde. Als die ersten seiner Altersgenossen bereits den großen Schritt gewagt hatten, meinte der Esel einen Durchbruch erzielt zu haben. Auch, wenn das für ihn einen besonders spannenden und prägenden Moment darstellte, die anderen Esel hatten nicht mehr als ein müdes Lächeln für seine bemitleidenswerten Versuche übrig. Aber der Esel hatte jetzt eine Idee, einen Startpunkt und war nicht mehr aufzuhalten. Jeden Tag platzierte er überlegt einen neuen Stein über den vorigen, manchmal brach seine Konstruktion zusammen, jedes Mal kam ein anderer Esel vorbei und bat ihn Kopf schüttelnd es doch bitte endlich aufzugeben, aber nie ließ er sich davon entmutigen. Und eines Tages war es dann endlich soweit. Die Brücke war fertig. Begeistert rannte der Esel ins Dorf und schrie aus voller Lunge ‚Die Brücke ist fertig! Die Brücke ist fertig! Ich kann jetzt über den Fluss gehen ohne ins Wasser zu müssen!‘ Aber die frohe Nachricht hatte nicht den gewünschten Effekt, kein Esel glaubte wirklich daran, dass seine Konstellation halten würde. Ein bisschen neugierig waren sie dann aber doch und die meisten hatten Mitleid mit dem Esel und so hatte sich bald das gesamte Volk vor der vollendeten Brücke versammelt und wartete gespannt auf den Platscher, den der Esel machen würde, wenn die Ziegel unter ihm nachgeben würden. Ein Rettungsschwimmeresel war für diesen Fall allseits bereit. ‚Muss das wirklich sein Schatz?‘, fragte Mama Esel noch einmal nach. ‚Ich will nicht, dass du dir weh tust.‘ Das war noch milde ausgedrückt, in Wahrheit war Mama Esel überzeugt, dass ihr Sohn nicht glorreich aus dieser Schlacht hervorgehen würde. ‚Keine Sorge, der Rettungsschwimmeresel ist top ausgebildet, unserem Kleinen wird nichts passieren.‘, beschwichtigte Papa Esel sie leiste und hakte seinen Huf in ihren. ‚Ja, das ist mein Moment, darauf hab ich schon so lange gewartet!‘, antwortete der Esel seiner Mama überzeugt. ‚Ich hab mir das alles perfekt mathematisch ausgerechnet, mir kann gar nichts passieren.‘ Mama Esel, die von Mathematik genau so wenig verstand wie vom Ping Pong Spielen war danach nicht weniger besorgt. Was war diese Religion der Mathematik, der ihr Sohn da so blind zu folgen schien? Und so machte der Esel den ersten Schritt auf die Brücke während der Rest des Eselvolkes den Atem anhielt und die Brücke hielt. Und er machte den nächsten Schritt. Und die Brücke zeigte nicht die geringste Reaktion. Und den nächsten Schritt. Und die Brücke blieb bestehen. Und als er an der Mitte angekommen war und die anderen Esel plötzlich realisierten, dass die Brücke vermutlich nicht mehr einstürzen würde, da atmeten sie auf und begannen zu jubeln. Der Esel konnte sein Glück kaum fassen. Zwar hatte er tatsächlich von Anfang an an seinen Erfolg geglaubt, aber das Glücksgefühl, das er in diesem Moment empfand, das konnte er nicht beschreiben. Er hatte es geschafft. Er war auf der anderen Seite des Flusses und der einzige Tropfen Flüssigkeit an seinem Körper, war der Schweiß, der ihm über die Stirn gelaufen war. Der Esel empfing Glückwunsch nach Glückwunsch, aber am Ende war noch ein Esel übrig, der war noch immer nicht überzeugt. ‚Wieso? Wieso die ganze Arbeit? Wieso hast du nicht einfach schwimmen gelernt wie alle anderen Esel vor dir? Dann könntest du jetzt auch auf die andere Seite vom Fluss.‘ Der Esel aber lächelte, er war auf diese Frage vorbereitet gewesen. ‚Wieso allen Eseln einzeln schwimmen beibringen, wenn du ihnen auch eine Brücke bauen kannst?‘
Obwohl die anderen Esel anfangs noch großen Respekt vor dem unbekannten Ziegelhaufen hatten, so schafften sie es doch nach einiger Weile ihre Skepsis komplett abzulegen und irgendwann wurde die Brücke des Esels die Hauptverkehrsader des Eselvolkes. Und als sie merkten, wie viel Zeit sie dadurch sparten, ließen sie den Schwimmunterricht ganz bleiben und widmeten sich anderen Dingen, an denen sie mehr Gefallen fanden. So kam es, dass ein schwarzes Schaf in einer Herde weißer Schafe die ganze Herde in schwarze Schafe verwandelte.“ „Aber dann gibt es die Schwimmesel ja gar nicht mehr?“ „Ja, da hast du wohl recht. Die Schwimmesel gibt es so nicht mehr.“ „Aber das ist ja voll traurig.“ „Hm, aber denkst du nicht, dass die heutigen Esel ein besseres Leben haben, wenn sie anstatt schwimmen zu lernen, andere Dinge machen können, die ihnen mehr Spaß bereiten?“ Aber Marie war schon wieder zur ihrer Freundin gelaufen, die einen Marienkäfer gefunden hatte und ihre Aufmerksamkeit war nicht mehr bei Brücken bauenden Eseln.
geschrieben am 19.07.2019
Zeichnung von Hilmar Röner, gefunden hier: http://mariusebertsblog.com/marius-ebert/so-sieht-eine-eselsbrucke-aus/
Habs als Audiobook genießen dürfen und war absolut begeistert.