Fröhlich spazierte Damara über das saftige Grün der Wiese, das aus dem vortäglichen Regenschauer gestärkt hervorgegangen, heute besonders kraftvoll strahlte. Nachdem der erste Blitz in den Birnbaum neben ihrem Elternhaus eingeschlagen war, hatte sich der Himmel schlagartig verdunkelt und es war nicht lange, bis Katzen und Hunde aus der Wolkendecke platzten. Im ganzen Ort hatte man ihre verzweifelten Schreie hören können, als sie zu Dutzenden fielen. Aber allesamt waren sie auf allen Vieren gelandet und ihre Schreie mit einem Mal verstummt. Dann waren sie einfach davonspaziert, zu ihren Besitzern oder wo auch immer sie hingehörten. Heute war gerade einmal Tante Hermis Katze Mitzi anzutreffen, die nebenan wohnte. Auch sie schien sich an dem glasklaren Himmel zu erfreuen, von dem gespenstischen Unwetter des Vortages keine Spur. Sie ging auf Damara zu, schmiegte sich an ihr Bein und nickte ihr ermutigend zu. Dann ging sie voran und Damara folgte brav. Geradewegs in ein gewaltiges Erdloch. Kurz fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren, aber dann sah sie die steinerne Wendeltreppe, die die gesamte Erdwand entlangführte.
Sie erkannte das Haus aus einer Reihe an Neubauten wieder, auch wenn sie sich bei der Hausnummer geirrt haben musste. Die Türe war angelehnt und Damara wagte einen Blick ins Innere. Die Vorhänge vor sämtlichen Fenstern waren zugezogen und das bisschen Licht, das sie durchbrach, reichte nicht aus, um mehr als nur ein paar Umrisse auszumachen. Damara war unsicher, ob sie hier erwünscht war, aber Mitzi legte ihre Pfote auf die ihre und deutete auf den Lichtschalter neben der Türe. Damara legte den Schalter um und mit einem Mal wurde der ganze Raum von einem grellen Weiß erleuchtet. Es wirkte wie ein ganz normales Wohnzimmer. Vielleicht etwas unpersönlich eingerichtet für ihren Geschmack, aber generell ein Zimmer, wie man es in jedem Einfamilienhaus hätte vorfinden können. Etwas enttäuscht über das Ausbleiben des Abenteuers, das sie sich im Geheimen gewünscht hatte, stieß sie weiter in das Innere des Anwesens vor und öffnete eine Tür nach der anderen, aber hinter keiner verbarg sich das, wonach auch immer sie auf der Suche war. Enttäuscht kehrte sie um und schloss die Eingangstüre hinter sich. „Ich glaub, mehr gibt’s hier nicht zu sehen“, meinte sie entschuldigend zu Mitzi, aber die schaute ganz zufrieden drein. Sie machten sich auf den Weg zum örtlichen Bahnhof, wo der nächste Zug bereits auf den Gleisen stand. Der Lokführer lehnte sich aus dem Fenster und winkte ihnen zu. „Beeilung, wir haben schon auf dich gewartet, spring rein!“ rief er strahlend. Die Türe schloss sich hinter ihnen und mit einem lauten Hupen setzte der Zug sich in Bewegung. Damara sah von ihrem Fensterplatz dem kleinen Örtchen nach, von dem sie sich immer weiter entfernten. Mit jedem Meter, den sie gewannen, wurde die Luft ein klein wenig klarer und als Damara nach ein paar Minuten wieder zurück schaute, sah sie nur mehr eine weiße Nebelwand, die sie zurückgelassen hatten. Der Schaffner ging um und kontrollierte die Fahrkarten der Gäste und peinlich berührt musste Damara feststellten, dass sie gar kein Ticket gekauft hatte. Aber der Schaffner winkte ab. „Wir wussten schon seit Monaten, dass du diesen Zug nehmen würdest.“ Er zwinkerte Mitzi zu. Da fiel Damara etwas ein. „Darf ich Sie etwas fragen?“ „Natürlich, meine junge Dame, frag mich bis ich zum Schweizer Käse werde.“ Darüber lachte er einmal laut und herzhaft. „Wieso ist das letzte Mal als ich hier war kein Zug gefahren?“ „Die Züge hier fahren rund um die Uhr, ich kann dir versichern, wir waren hier und haben gewartet“, antwortete der Schaffner. „Eigenartig“, meine Damara. „Das muss mir wohl entfallen sein.“
enstanden 27.02.2020 als Fortsetzung zu "Fallend"
ursprünglich war keine Fortsetzung geplant und während "Fallend" auch alleine stehen kann, ist "Entfallen" komplett auf seiner Vorgeschichte aufgebaut
picture by Lee Hull on Unsplash
Comments