Schon seit Laura denken konnte, lebten die vier weisen Männer bei ihrer Familie. Nun sollten sie plötzlich Platz machen, weil in dem Einfamilienhaus nicht mehr genug Raum für Mama, Papa, Laura, ihren kleinen Bruder Leo, den Hund Bosko, die Katzen Popper, Russel, Kant und Hume, drei Meerschweinchen, einen Hasen, 15 Fische und vier weise Männer war. Es wurde nie ein Hehl daraus gemacht, wer welchen Stellenwert in der Familie einnahm und wer nur eben so geduldet wurde. Die vier weisen Männer hatte das nie weiter gestört, sie hielten sich meist im Hintergrund auf, sprachen nicht viel, stellten keine Ansprüche. Auch Laura war sich ihrer Anwesenheit meist gar nicht bewusst. Mama befürchtete aber, dass es mit dieser Genügsamkeit bald ein Ende haben würde und sie Forderungen an einen größeren Anteil des Hauses stellen würden. Also beschloss sie kurzerhand, sie einfach gleich rauszuschmeißen, um etwaigen späteren Konflikten jetzt schon aus dem Weg zu gehen, provisorisch also. Laura fand das alles andere als fair und auch wenn sie sich zuvor nie wirklich für die vier Alten interessiert hatte, machte sie sich nun mit all ihrer Kraft für das Bleiben der Männer stark. Aber es half alles nichts. Mama würde ihnen am Abend Bescheid geben, dann hatten sie zwei Wochen um ihre Koffer zu packen und danach würde es sein, als wären sie nie da gewesen.
Es klang skurril, etwas zu vermissen, das einem davor nie überhaupt aufgefallen war, aber doch wusste Laura, dass so ein Abschied immer mit viel Schmerz verbunden war und sah dem Abreisetag traurig entgegen. Die weisen Männer würden mitten in der Nacht abreisen, still und heimlich, wovon Laura nichts mitbekommen würde. Mama meinte, dass das ihren Schmerz lindern würde und sie außerdem vor unerwünschten Dummheiten bewahren wie etwa abermals um das Bleiben der Männer zu flehen und ihnen den Abschied noch mehr zu erschweren. Laura würde also schlafen. Auch wenn es eine Weile brauchte, bis sie sich als müde genug empfand um ins Bett zu gehen (Mama fragte mindestens fünf Mal nach, ob es nicht endlich so weit sei), schlief sie dann überraschend schnell ein.
Die Nacht verlief traumfrei und dennoch erwachte sie lachend und weinend zugleich. Sie konnte sich ihren Gefühlsausbruch nicht erklären, genauso wenig wie Mama, die ins Zimmer gestürzt kam und besorgt aussah. Laura aber fühlte sich überraschend gut. Es war mehr Erleichterung als Bestürzung, die zu dieser starken Reaktion geführt hatte. Außerdem war sie in Redelaune und faselte viel wirres Zeug, was Mamas Unbehagen nur steigerte. Als Laura das sah, musste sie nur noch mehr lachen und meinte „Du brauchst dir nicht so viel Sorgen machen, Mama. Schau mal Papa an, der bleibt auch immer ruhig.“ Aber nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: „Aber ok, der ist halt auch egoistisch.“ Dann begann sie plötzlich auf Englisch zu reden, zwar weniger wirr und mehr auf Mama eingehend, aber es schien sie nicht zu stören, dass ihr Gesprächspartner in einer anderen Sprache kommunizierte. Irgendwann wechselte sie dann doch wieder zurück auf Deutsch, in der Hoffnung so mehr Kredibilität zu erlangen und verlangte nach ihren Schuhen, die sie sich noch im Bett anzog. Mama hatte sogar ihre Hilfe angeboten, war der Aufgabe aber nicht ganz gewachsen gewesen. „So und jetzt geh ich die weisen Männer suchen“, meinte sie entschlossen und wollte aufspringen, aber Mama hielt sie zurück. „Du bist doch gerade erst aufgewacht, bleib noch eine Weile liegen“, meinte sie. Diese Argumentation, so befand Laura, hatte mehr Löcher als ein Schweizer Käse. Offensichtlich wollte Mama einfach nicht, dass sie die weisen Männer sah. Trotzdem beließ sie es danach lediglich bei erheitertem Meckern und unternahm keine weiteren Fluchtversuche. Tatsächlich führte Mama sie nach ein paar Minuten zu den weisen Männern um sie ein letztes Mal sehen zu können. Dabei fiel es Laura verwirrend schwierig einen Fuß vor den anderen zu setzen, wo sie sich doch so gut fühlte. Danach gingen sie wieder nachhause und Laura war noch immer begeistert von der Einfachheit der Sache, sie hatte sich so viel mehr Leid erwartet. Auch die Leere im Haus, wenn nicht komplett abwesend, war nicht ansatzweise so erdrückend wie erwartet. Laura wollte allen beweisen, wie sehr sie der Abgang der Alten doch kalt ließ und schnitt sich ein Stück Brot ab, das sie sich theatralisch in den Mund steckte. Aber sie bekam es doch nicht hinunter und spuckte es wieder aus. Zwar konnte sie essen, aber es war mit so viel Anstrengung verbunden, dass sie an dem Tag nicht viel Nahrung zu sich nahm. Dennoch war sie guter Dinge, denn es würde nur besser werden. Und schon der erste Tag war beinahe komplett schmerzfrei verlaufen. Sie hatte nicht einmal nach einer von Papas legendären heißen Schokoladen verlangt, nicht bis zum Einschlafen als Mama meinte, es könne nicht schaden und würde ihr bestimmt gute Träume bescheren.
Aber es wurde nicht besser. Am zweiten Tag rügte sie sich für ihren anfänglichen Optimismus, denn wusste nicht jeder, dass Verlust am zweiten Tag erst richtig einsinkt. Schon beim Aufwachen spürte sie die drückende Leere, die sie am Vortag gemisst hatte. Mama meinte nun, sie musste ihre heiße Schokolade trinken, drei mal am Tag. Das Essen wurde zusehends schwieriger und war mit noch mehr Anstrengung verbunden. Am frühen Nachmittag wurde der Herzschmerz unerträglich und keine heiße Schokolade konnte ihn auch nur irgendwie lindern. Mama verging aus mütterlichem Mitleid selbst der Appetit. Da entschloss Papa, die exquisiteste Schokolade aufzutreiben, die er bekommen konnte, sie war für besonders starken Herzschmerz gedacht und glücklicherweise kannte er den Händler gut und bekam sofort ein Exemplar. Er wurde aber gewarnt, dass diese Wunderschokolade zu starken Müdigkeitszuständen führen würde. Aber nichts dergleichen trat ein. Nach zu langer Zeit konnte sie zwar endlich den Schmerz lindern, die Nebenwirkungen blieben aber aus. Danach ging es besser, Laura bemühte sich zu Essen, obwohl sie merkwürdigerweise gar keinen Appetit verspürte, aber viel wurde es auch an diesem Tag nicht.
Am dritten Tag erreichte die drückende Leere im Haus seinen Höhepunkt und Laura erkannte sich im Spiegel kaum wieder. Ihre Mundwinkel, die gewöhnlich nur eine Richtung kannten und die zeigte gen Himmel, blickten nun dauerhaft zu Boden, Lachen war ihr nicht mehr möglich. Die gute Nachricht aber war, dass der Schmerz fast gänzlich durch ein reines Unbehagen abgelöst wurde. Sie verbrachte nun die meiste Zeit damit, dem Spiel der Throne zu folgen, was zwar an Produktivität nicht am Entferntesten an ihre gewöhnlichen Standards rankommen konnte, aber diese Ansprüche stellte sie in Zeiten wie diesen auch nicht an sich selbst, das hatte sie von Anfang an beschlossen, was ihr nun eine ordentliche Last von den Schultern nahm.
Wie erwartet, war die drückende Leere am vierten Tag etwas zurück gegangen, was auch gut daran liegen kann, dass Laura anstatt der empfohlenen 48 Stunden, ganze 72 Stunden lang die Lüftung im Haus angelassen hatte, um die unangenehme Luft des Vergangenen hinaus zu fegen. Trotzdem wurde sie langsam ungeduldig, irgendwie hatte sie sich den ganzen Prozess deutlich kürzer und ihre Besserung zügiger vorgestellt. Sie in ihrem so kräftigen mentalen Zustand hatte fast mit einer Expressheilung gerechnet. Aber wen sie auch fragte, jeder wollte ihr weiß machen, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Dauer handelte. Sie entschied, langsam zur Normalität zurückgehen zu wollen, aß mehr, lachte gar gelegentlich, nicht sonderlich herzhaft, aber doch. Das schien anfangs noch ganz gut zu funktionieren, aber schnell wurde klar; dieser Wunsch nach Normalität hatte seine Konsequenzen. Die weisen Männer schienen wütend auf ihr unachtsames Verhalten zu sein und sie, wo sie auch gerade waren, mit mehr Schmerz zu strafen. Papas gewöhnliche Schokolade, die eigentlich gut Wirkung hätte zeigen sollen, hatte das eigentlich eh nie getan und die Wundervariante war es nicht wert für dann doch nicht sonderlich starken Schmerz vergeudet zu werden. Also musste Laura wohl oder übel damit leben, dass sie für jeden Schritt in Richtung Fröhlichkeit gescholten wurde. Das nahm der Fröhlichkeit doch etwas den Reiz und Laura überlegte, ob sie doch nicht noch ein wenig hätte warten sollen. Am Abend bekam sie sogar Besuch von ihrer besten Freundin Annika, was zwar ihr und der Normalität Freude bereitete, aber den weisen Männern verständlicherweise nicht sonderlich zusagte. Auch musste sie sich eingestehen, noch immer nicht ganz sie selbst zu sein.
Der nächste Tag brachte wenig Besserung, eher spürte sie noch mehr, den Zorn der weisen Männer auf sich gezogen zu haben. Dennoch war sie entschlossen, den Weg zur Normalität weiterhin zu gehen, auch wenn sie demnächst keine verrückten Dummheiten mehr geplant hatte.
Eine Woche nach der Abreise der weisen Männer entschied sie nun, den Startschuss zum Sozialisieren zu erteilen und das Trauern offiziell zu beenden, wenn auch sie Wundpunkte wie Sonnenstrahlung und körperliche Betätigung weiterhin meiden würde. So empfing sie am Abend ihre andere beste Freundin Nadine für einen Winx Club-Marathon. Sie hatte jetzt Blut geleckt und würde nicht zulassen, dass ihr dieses Stück Normalität wieder abhandenkommen würde.
An Tag 10, dem offiziellen Tag der Heilung, tat Laura dem Tempel, der ihr Körper war, etwas Gutes, indem sie ihr liebstes full body Workout ansetzte und sich ein köstliches Brot schmierte. So fühlte sich Freiheit an.
Das passte den weisen Männern, die nach inzwischen elf Tagen Distanz noch immer meinten, das Befinden ihrer ehemaligen Mitbewohnerin kontrollieren zu können, natürlich so gar nicht in den Kram und prompt teilten sie eine zweitägige Strafe aus, aber diesmal fiel es Laura im Traum nicht ein, auch nur irgendeine Reaktion zu zeigen und inzwischen war sie froh, dass Mama diesen Störenfrieden die Schranken gewiesen hatte.
Fast zwei Wochen nach dem Abschied, ein Tag war es noch dahin, war es endlich an der Zeit, alle Fäden, die zu den weisen Männern führten, zu ziehen. Dafür hatte Laura ihre Freundin Denise eingeladen und ein paar Seile besorgt, die sie symbolisch durchtrennen wollten. Das hätte eigentlich keinerlei Probleme bereiten sollen, aber irgendeine Stimme in Lauras Inneren wollte ihr die Sache ausreden. „Oje“, kam es aus allen Ecken und der erwartete Zuspruch (es war doch schließlich etwas Gutes mit einer solchen Sache abzuschließen!) blieb aus. Bald stellte sich auch heraus, dass Denise nicht sonderlich viel vom Seiledurchtrennen verstand und Laura machte sich mit einem sehr unguten Gefühl auf den Heimweg. Zuhause angekommen bemerkte sie, dass sie tatsächlich ein Seil vergessen hatten, das sie dann wohl allein durchtrennen musste. Damit war auch die letzte Verbindung zu den Weisen dahin und Laura hoffte, nie mehr von ihnen hören zu müssen.
verfasst am 21.07.2020 und 22.07.2020 (letzter Absatz)
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