Es war Ostersonntag und auch wenn er es gerne leugnete, Jacob lag schon gefühlte Stunden wach in seinem Bett und wartete darauf, dass seine Mutter in sein Zimmer kommen und ihn wecken würde. Jetzt, wo er acht Jahre alt war, hatte er gehofft, er würde endlich ordentlich schlafen können in der Nacht vor Ostern, wie ein großer Junge, ohne Albträume und ohne zu Uhrzeiten aufzuwachen, zu denen er es an keinem anderen Tag im Jahr fertig gebracht hätte seine Augen zu öffnen. Aber da hatte er sich geirrt, er hatte sich wirklich Mühe gegeben, aber die Spannung war einfach zu groß gewesen. Also lag er da auf seinem Bett und wartete und wartete. Er hatte keine Uhr, die ihm die Zeit verraten würde, aber draußen war es schon hell, also konnte es nicht allzu lange dauern. Da hörte er seine kleine Schwester Fiona schreien. Sie war fünf Jahre alt und im Gegensatz zu ihm musste sie nicht warten, bis sie von ihren Eltern geweckt wurde, sobald sie wach war, war es auch der Rest des Hauses, ob er es nun wollte oder nicht. Jacob war sich sicher, dass das bei ihm damals ganz anders gewesen war, aber das leugnete Mama jedes Mal. Wenigstens einmal im Jahr konnte er sich über die Dickköpfigkeit seiner kleinen Schwester freuen. In dem Wissen, dass seine Mutter ihn sowieso für wach halten würde, konnte bei dem Lärme doch niemand mehr schlafen, sprang er aus dem Bett, schlüpfte in das am Vortag zu Recht gelegte Gewand (spart Zeit und außerdem macht Mama immer Fotos, da will man ja nicht aussehen, als hätte man wahllos irgendwelche zwei Teile aus dem Schrank gepackt) und flitzte ins Bad, wo er sich im Rekordtempo die Zähne putzte und es dauerte keine fünf Minuten bis er fix und fertig vor seinen Eltern stand und die Erlaubnis den Garten zu betreten verlangte. Diese blieb ihm jedoch – hätte er es nicht besser wissen müssen – verwehrt. „Jacob Schatz“, begann seine Mutter. Schon da wusste er, er hatte verloren. Ein Satz, der so beginnt, kann gar nicht gut enden. „Wir sind gerade erst vor fünf Minuten aufgestanden, gib uns doch noch etwas Zeit, nicht jeder ist so ein Aufsteh-Weltmeister wie du.“ Was nutzte es ihm, dass er das Fertigwerden am Ostermorgen immer zu einem Wettrennen machte, wenn jeder andere sich Zeit ließ, als hätte er unendlich davon und als würde Jacob nicht schon Stunden gespannt in seinem Bett liegen und nur auf diesen Moment warten. Aber das wussten sie ja nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit, aber die Uhr, die sich Jacob diesmal zu Nutzen machen konnte, meinte, es wären nur fünfzehn Minuten gewesen, waren endlich alle fertig und die Erlaubnis zum Nester Suchen wurde erteilt. Das ließ sich Jacob natürlich nicht zwei Mal sagen und flitzte in den Garten, er war schon mit einem Bein aus der Tür, da hielt sein Vater ihn zurück. „Jacob, du bist ja jetzt schon groß. Wieso lässt du nicht deine Schwester zuerst ein bisschen suchen, dass sie auch eine Chance hat, hmm? Ich bin mir sicher, es gibt viele Nester, die sie sowieso nicht finden wird und dann bist du ja da. Der Osterhase war besonders ideenreich dieses Jahr.“ So eine Frechheit! Was fällt dem überhaupt ein! Schon wollte Jacob protestieren, da fiel ihm ein, dass große Kinder so etwas nicht machen und er wollte doch nicht, dass Papa glaubte, er wäre ein Baby. Woher wusste er überhaupt, dass die Nester so gut versteckt sind? War er etwa schon draußen gewesen? Vor Jacob? Was, wenn er den Osterhasen verscheucht hätte? Oder hatte er das einfach nur gesagt, um ihn zu beruhigen? Nun waren schon eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden vergangen, wenn Fio jetzt nicht alle Nester gefunden hatte, würde sie das nie tun, dachte Jacob und nach fast zwei ganzen Minuten konnten auch große Buben, die ihren kleinen Schwestern großzügig einen Vorsprung ließen, zu suchen beginnen. Fiona hatte tatsächlich schon zwei Nester gefunden, aber beide waren ihre eigenen, wie Jacob erleichtert feststellte. Er wusste nicht, ob er die Fassade eines großen Buben noch lange aufrecht erhalten hätte können, hätte Fiona eines seiner Nester gefunden. Anscheinend schaute der Osterhase beim Verstecken seiner Nester doch auch auf das Alter seiner zu Beschenkenden, sehr schlau. Sein Vater hatte recht gehabt, so schwierig wie dieses Jahr waren seine Nester noch nie versteckt gewesen. Das erste hatte er relativ schnell gefunden, es war unter der gelben Rutsche gewesen, für das zweite musste er schon etwas genauer suchen, war es doch kaum sichtbar unter einer großen Tanne gelegen, aber das dritte, das auf einem Fenstersims platziert wurde, welcher außerhalb seines Blickfeldes lag, hatte er erst gefunden, als er – schon fast am Aufgeben – auf einen Baum geklettert war um den Garten noch einmal von oben zu betrachten. Stolz stellte er fest, dass ein kleiner Junge dieses Nest nie gefunden hätte. Auch seine Eltern wirkten ziemlich erstaunt, dass er beim Suchen keine Hilfe benötigt hatte. Nun, da er alle seine drei Nester gefunden hatte – aus irgendeinem Grund wusste Mama, dass es genau drei waren und er nicht weiter suchen brauchte – konnte er sich endlich an das Betrachten seiner Geschenke machen. Neben unzähligen Süßigkeiten, darunter die weißen Löffeleier, die er neulich bei Max probiert und so geliebt hatte – der Osterhase wusste echt alles, nicht einmal er hatte sich den Namen der Marke gemerkt – hatte er auch ein fernsteuerbares Auto, einen Fußball und ein Stofftier seines Lieblingspokemons Plinfa bekommen, Fiona ein Barbiepuppenhaus, eine Bürste mit Stella - ihrem Lieblingsmitglied des Winx-Clubs, ein Kinderschminkset und so wie Jacob ein Pokemonplüschtier, aber nicht Plinfa, sondern Ponita – ihr Liebling. Das waren ein Geschenk mehr als er bekommen hatte, aber ihm war klar, dass das nichts aussagte, waren seine Geschenke dafür teurer gewesen. Während er noch immer unschlüssig war, welchem seiner Geschenke er sich als erstes zuwenden sollte, hatte Fiona schon ihr ganzes Gesicht mit bunten Farben bemalt. Sie mochte es offensichtlich extravagant, denn anstatt der vielen Rot –und Rosa-Töne hatte sie sich für ein tiefes Blau für ihre Lippen entschieden. Ihre Wangen dafür hatte sie traditionell pink bepinselt, auch wenn etwas intensiver, als man es vielleicht gewöhnt wäre und ihre Lider – und alles rund herum – glitzerten golden. Insgesamt konnte man sagen, dass sie einen sehr gewagten Look gewählt hatte und definitiv auf dem besten Weg war eine echte Fashionista zu werden. Jacob hatte inzwischen beschlossen, seine Zeit erst mal dem Auto zu widmen, Bälle und Stofftiere hatte er zur Genüge, aber ein fernsteuerbares Auto, das war etwas ganz Neues, das schleunigst getestet gehörte. Zufrieden stellte er fest, dass es sowohl über Beton, als auch über Wiese und sogar Kies fahren konnte. Er war ganz begeistert. Bennis Auto hatte spätestens bei letztem schlapp gemacht. Das lag daran, dass der Osterhase ihm keines dieser hochwertigen Geländewägen gekauft hatte, erklärte Mama. Mit anderen Worten: Es war teuer, pass darauf auf. Das musste er gleich Benni erzählen, wenn er ihn am Mittwoch wieder in der Schule sah, der würde Augen machen. Vielleicht durfte er das Auto sogar in die Schule mitnehmen, nur einmal, als Ausnahme. Mama sagte nein. Er durfte nie irgendetwas mitnehmen. Andere Kinder, die nicht so tolle Geschenke bekommen hatten, konnten es ihm ja wegnehmen. Mama dachte echt schlecht von achtjährigen Kindern. Waren ihre Schulkameraden in dem Alter damals so böse gewesen? Aber Jacob wusste es besser, als dass er weiter darauf bestanden hätte. Es hätte soundso keinen Zweck. Wenn Mama eine Regel aufstellte, dann war das so und man konnte nicht wirklich etwas dagegen tun. Bei manchem noch weniger als bei anderem.
Nachdem Jacob und Fiona ausführlich mit ihren neuen Geschenken gespielt hatten – Jacob hatte inzwischen auch schon den Ball und das Stofftier ausprobiert (Plinfa und Ponita hatten gegeneinander gekämpft und Jacob eindeutig gewonnen, auch wenn Fiona das, sturköpfig wie sie war, nicht wahr haben wollte, aber sie war ja auch noch klein), riefen Mama und Papa, dass sie noch zwei Nester vergessen hatten. Oma und Opa, die gerade gekommen waren, hätten doch noch für jeden eines gesehen. Im Vergleich zu den anderen von der Früh, waren die Verstecke diesmal eine kleine Frechheit, aber wenn Jacob Süßigkeiten bekam, dann konnte er sich kaum beschweren. Nach etwa vier Sekunden hatte er seines gefunden, es lag einfach offen auf einem Stapel Holz. Wie konnte er das übersehen haben? Er war sich doch sicher gewesen, dass da vorhin noch nichts oben gelegen war. Aber wie gesagt, bei Essen beschwerte er sich nie, besonders als er die blauen Gummischlangen sah, die er zuletzt bei Oma und Opa gesehen, gegessen und geliebt hatte. Seit Wochen hatte er Mama damit genervt, sie sollte ihm die auch einmal kaufen, aber die behauptete jedes Mal, sie nicht gefunden zu haben. Anscheinend war der Osterhase besser im Suchen. Fionas Nest unterschied sich von seinem nur darin, dass ihr Schokoosterhase blau war und seiner pink. Das gefiel ihr aber gar nicht, war das doch ihre Lieblingsfarbe. „He Jacob! Ich will den rosa Osterhasen!“, schrie sie, wieder einmal ohne ein Bitte. „Pech, ich habe ihn nämlich zuerst gefunden!“, schrie er zurück und zeigte ihr seine Zunge. Ok, das war vielleicht nicht unbedingt, was große Buben machten, aber mit einer so nervigen kleinen Schwester war das durchaus erlaubt. Da wurde sie zornig und versuchte ihm den Hasen aus der Hand zu reißen. „Gib. Mir. Den. Hasen!!!!“, schrie sie, diesmal um einiges hysterischer. Als Jacob aber keine Anstalten machte, ihren Befehlen nachzugeben, begann sie lauthals zu weinen und nach Mama zu schreien. Da kamen natürlich gleich alle Erwachsenen angelaufen. „Was ist denn mein Schatz?“, fragte Mama und nahm Fiona in die Arme. So ein Theater machen und dann auch noch Mitleid bekommen, das konnte auch nur sie. Na warte, wenn sie nur den Grund für ihren Wutanfall erfuhr. „Jacob mag mir den rosa Osterhasen nicht geben“, schluchzte sie und versteckte ihr Gesicht in Mamas Pulli, so eine manipulative Heulsuse. „Ich hab ihn zuerst gefunden“, verteidigte er sich. Mama würde ihn bestimmt verstehen und Fiona erklären, dass der Hase tatsächlich ihm zustand. Oma war das aber anscheinend egal, denn sie meinte: „Ach Jacob, da habt ihr die Nester vertauscht. Das rosane war eigentlich für deine Schwester gedacht.“ Woher wollte sie das denn überhaupt wissen? Ihm so in den Rücken zu fallen. „Aber –“ begann er, hörte aber auf als er Omas freundliches, aber dringliches nun-gib-doch-schon-her-Lächeln sah und ihre ausgestreckte Hand, in die er den Hasen legen sollte. So ganz bestimmt nicht. So nicht. Er würde nicht einfach nachgeben. Wenn sie lieb gefragt hätte, dann hätte er ihn ihr wahrscheinlich gegeben. Die Farbe von einem Osterhasen, was war das schon. Nur ein Papier, das man runterriss um das zu genießen, was eigentlich zählte – die inneren Werte. Aber niemand hatte ihn darum gebeten. Ja, Fiona hatte nicht einmal Bitte gesagt. Nicht einmal OMA hatte Bitte gesagt. Wer glaubten die denn, dass sie waren? Einfach so mit ihm umzugehen! Bei dem Gedanken daran, kamen Wuttränen in ihm hoch, die er aber sofort zurück drängte, wäre ja noch lustiger. Also zog er den Hasen zu sich, beschützte ihn mit seinen Armen und sah seiner Oma zornig entgegen. Nicht mit mir. Diese schien das vollkommen kalt zu lassen. Sie wirkte eher genervt. GENERVT. Wenn hier jemand Grund dazu hatte genervt zu sein, dann war das ja wohl Jacob. „Na komm schon, sein kein Baby, gib ihr den Hasen. Du bist doch vernünftig.“ SEI KEIN BABY WEIß DIE ÜBERHAUPT WAS EIN BABY IST ICH BIN KEIN BABY VERNÜNFTIG WAS VERNÜNFTIG ICH GEB DIR GLEICH VERNÜNFTIG DU DU ************* Am liebsten hätte er ihr sofort eine geklascht, aber er war nicht so der Fan von Gewalt, also schleuderte er ihr einfach das gemeinste Schimpfwort entgegen, das er kannte, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck sah, lächelte er selbstgefällig, während Mama ihn am Arm zog und auf ihn einschrie und der Tag war gelaufen. Und das alles wegen einem rosa Osterhasen.
verfasst am 25.03.2016 als Ostergeschenk für meine Mutter
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